Houellebecqs Serotonin zwischen Gottes Liebe und EU-Schlampe

Diese Melange aus Scharfsinn und Pornographie, Seelenlosigkeit und Mitgefühl kennt man schon, doch in Serotonin klingt Houellebecq religiöser als in seinen früheren Werken.

Der Anfang des neuen Buchs versetzt uns in eine Szenerie der Elementarteilchen, des ersten großen Houellebecq-Romans von 1997: Der Protagonist macht Urlaub in einer alternden Nudistenkolonie, und umso mehr bringt ihn die Begegnung mit Mädchen aus der Fassung. Hier wie dort löst das Sexfantasien aus, aber in Serotonin umgibt der Ich-Erzähler sein Verlangen mit Humor, indem er einen biblischen Ton anschlägt: „Ein weißes Schlauchtop aus Baumwolle bedeckte notdürftg ihre Brüste, und ihr kurzer, flatternder Rock, ebenfalls aus weißer Baumwolle, schien förmlich darauf zu warten, sich beim geringsten Luftzug zu heben – wobei es keinen Luftzug gab; Gott ist gnädig und barmherzig.“ Mit dieser „Brünetten wäre alles anders gewesen, sie hätte sich am Strand ohne Groll und ohne Geringschätzung ausgezogen, solch eine gehorsame Tochter Israels, sie hätte sich nicht an den Wülsten der fetten deutschen Rentnerinnen gestört (sie wusste, dies war das Schicksal der Frauen bis zur glorreichen Wiederkunft Christi), sie hätte (…) das gloriose Spektakel ihres perfekt gerundeten Hinters, ihrer arglosen, aber nichtsdestoweniger epilierten Muschi (denn Gott hat den Putz erlaubt) dargeboten, und ich wäre wieder steif gewesen.“

Kann man den Bezug auf Gott in so einem Kontext noch für einen blasphemischen Gag halten, so lässt das Romanende keinen Zweifel daran, dass es dem Erzähler damit ernst ist: „Gott kümmert sich tatsächlich um uns, er denkt in jedem Augenblick an uns, und manchmal gibt er uns sehr genaue Weisungen. Seine überschwängliche Liebe, die in unsere Brust strömt, bis es uns den Atem verschlägt, seine Erleuchtungen, seine Verzückungen (…) sind äußerst klare Zeichen. Und heute verstehe ich den Standpunkt Christi, seinen wiederkehrenden Ärger über die Verhärtung der Herzen: Da sind all die Zeichen, und sie erkennen sie nicht.“ Die Liebe hat dieser Erzähler namens Florent wirklich erlebt: mit seinen Freundinnen Kate und Camille. Er erzählt von beiden Beziehungen ohne Zynismus und Obszönität, die man sonst von ihm wie überhaupt von diesem Autor kennt – ein Unterschied, den viele Rezensenten übergehen. Das Rätsel ist, warum die Liebe des Lebens scheitert, genauer: warum Florent sie zerstört. Er selbst erklärt es so: „Es geschieht trotzdem, es geschieht ständig. Gott ist ein mittelmäßiger Drehbuchschreiber, (…) Gott ist mittelmäßig, seine gesamte Kreation trägt das Mal des Ungefähren und des Misserfolgs, wo nicht schlichtweg der Bosheit“.

Philosophisch gesehen liegt es also an der Widersprüchlichkeit Gottes, dessen Werk nicht nur die Atem verschlagende Liebe ist, sondern auch ihre mediokre Negation. Individualpsychologisch dagegen betrachtet ist es Florents Geilheit: Er zerstört die Liebe, indem er Camille mit Tam betrügt, einer Karibin mit „einem hübschen kleinen schwarzen Hintern“, die er in Brüssel bei seiner Arbeit mit EU-Beamten bzw. „jungen Eurokraten“ kennenlernt. „Tam gehörte der englischen Delegation an (England zählte damals noch zu Europa, oder zumindest gab es sich den Anschein).“

Symbolisch ist damit die Brücke zum zweiten Kernthema dieses Buchs geschlagen: der europäischen Landwirtschaftspolitik und dem von ihr bewirkten Niedergang der ländlichen Gebiete. Die Europäische Union, die sich durch die Abschaffung der Milchquoten „wie eine alte Schlampe verhalten“ hatte, befördert Handelsfreiheit und damit eine Konkurrenz, unter der die Aprikosenerzeuger im Roussillion oder die Milchbauern in der Normandie zugrundegehen. Sie tritt somit als Anwältin des Neoliberalismus auf, gegen den der Erzähler wie schon jener der Elementarteilchen polemisiert, etwa wenn er feststellt, dass dem Ende der Franco-Diktatur in Spanien eine gesellschaftliche Strömung folgte, die „Wettbewerb, Hardcore-Porno, Zynismus und Aktienoptionen“ honorierte. Gegenläufig zur Befreiung der Märkte werden staatlicherseits die „individuellen Freiheiten von Jahr zu Jahr stärker beschnitten“, wofür die Rauchmelderpflicht und die Not des Erzählers, ein Hotel ohne Rauchverbot zu finden, ein Beispiel geben.

So ist die Welt „unwirtlich und hart“ geworden, „ohne Mitleid mit den Schwachen, sie hielt ihre Versprechen nie, und die Liebe blieb das Einzige, woran man vielleicht noch glauben konnte“, sagt der Erzähler, um an anderer Stelle zu konstatieren, dass „die Gesellschaft eine Maschine zur Zerstörung der Liebe“ ist. Für diese, Houellebecq-Lesern schon vertraute Diagnose sind Serotonin ausschüttende Antidepressiva auch keine Therapie. Das Buch stellt aber den Liebesverlust unter den Menschen und übrigens auch gegenüber Tieren (für deren Klagen der Erzähler sensibel ist) in einen weiteren Horizont.

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