„Vernichten“ – Wird Houellebecq verstummen?

An manchen Montagen Ende November oder Anfang Dezember fühlt man sich, besonders als Alleinstehender, wie im Todestrakt. Mit diesen trostlosen Worten führt uns der Erzähler ein in die Bemühungen eines französischen Geheimdienstmitarbeiters, einer Terrorgruppe auf die Spur zu kommen, die den Wirtschaftsminister bedroht, indem sie auf rätselhaft-perfekte Weise dessen Tötung mittels Guillotine im Internet simuliert.

Nach wenigen Kapiteln jedoch spielt der Geheimdienstmann keine Rolle mehr. In den Mittelpunkt rücken Paul, ein Vertrauter des Ministers, und seine Angehörigen, in deren Schicksalen sich andere Themen brechen: Pauls Vater, bisher ein hoher Beamter, nun ein Pflegefall im Wachkoma, seine gläubige, herzensgute Schwester und ihr Mann, beide arbeitslos geworden in der Provinz, sein Bruder Aurelien, gedemütigt von seiner Frau, Paul selbst in einer kaputten Partnerschaft.

Die Familie kommt um das Pflegebett zusammen, und während Pauls Beziehung im Zuge dessen wieder auflebt, eskaliert der Hass zwischen Aurelien und seiner Frau. Diese hatte ihn für unfruchtbar erklärt, um sich Spendersamen auszusuchen, und zwar solche, die dem Kind eine andere Hautfarbe geben als Aurelien. Dies und die Verhältnisse in der Klinik zeichnen das Bild einer Gesellschaft, die das Zeugen und Sterben zur Kalkulationsangelegenheit macht und insofern für Eugenik und Euthanasie offen ist.

Das in den Hintergrund getretene Terrorthema spiegelt sich hier wider. Die unbekannten Täter lassen eine Spermienbank in Dänemark genauso in die Luft gehen wie ein Flüchtlingsschiff im Mittelmeer. Ihr Motiv könnte ökofaschistisch sein, nämlich darin bestehen, zur Schonung der Umwelt die Erdbevölkerung zu verrringern. Allein, das Establishment wird davon mitnichten erschüttert; es reagiert vielmehr mit einer Gedenkveranstaltung, die im Fernsehen übertragen wird. Paul nimmt das so wahr: Zwar war das Thema Würde schon seit einigen Jahren auf dem Vormarsch, doch dieses Mal hatte sich der Präsident (…) wirklich hervorgetan und ein ganz außergewöhnliches Maß an Würde offenbart. Nach einigen Minuten schaltete Paul den Ton ab. Wenn Menschen, die sich nachweislich in so ziemlich allen Fragen uneinig sind, zusammenkommen, um gewisse Wörter zu feiern – und das Wort „Würde“ ist hierfür ein perfektes Beispiel –, dann haben diese Wörter jede Bedeutung verloren.

Den Ton abschalten, weil Worte nicht taugen – dieses Motiv begegnet öfter in Houellebecqs neuem Roman. Über Madeleine, die Lebensgefährtin von Pauls Vater Edouard, heißt es: Sie hatte einfach beschlossen, nicht zu sprechen oder so wenig wie möglich zu sprechen, sie musste der Meinung sein, dass Worte meist nutzlos waren; und vielleicht hatte sie damit recht. Gleiches gilt für die Famlienzusammenkünfte: Edouard in seinen Rollstuhl am Esszimmertisch war für sich genommen ein steter Quell des Schweigens, sodass ihre Mahlzeiten manchmal endeten, ohne dass ein einziges Wort gesprochen worden wäre, doch das war nicht schlimm, es war gut.

Das Gegenteil dieser positiv bewerteten Wortlosigkeit ist Aureliens Ehefrau Indy. Ihre Bösartigkeit tritt durch einen Verbalakt zutage; sie bezeichnet den im vegetativen Zustand befindlichen Edouard als „menschliches Gemüse“. Von Beruf ist sie Magazinjournalistin, und auch diese Wort-Arbeit dient negativen Zwecken. Nachdem ihre Hoffnung aufs Erbe der Schwiegereltern geschwunden ist, veröffentlicht sie einen Artikel über Pauls Verwandtschaft, in welchem Verbindungen zum Nazi-Milieu insinuiert werden. Das soll nicht bloß der Familie, sondern im Endeffekt dem wahlkämpfenden Wirtschaftsminister Bruno schaden, dessen enger Berater Paul ist. Ihre Formulierungen sind dabei so austariert, dass sie Empörung erzeugen, ohne als Falschbehauptung angegriffen werden zu können.

Die Ironie besteht darin, dass die Familienmitglieder die von Indy beabsichtigte Wirkung mit Schrecken erwarten, diese aber keineswegs eintritt. Brunos Kampange geht ungestört weiter. Die mediale Attakte verpufft ähnlich wie die Terror-Serie. Für den Plot dieses Romans könnte man das als einen Mangel empfinden: Manche seiner Handlungsstränge verenden einfach, und auf einen davon scheint sich immerhin der Titel „Vernichten“ zu beziehen.

Dafür gewinnt ein anderer Faden an Stärke. Er beginnt unscheinbar im ersten Drittel des Buches damit, dass Paul Zahnschmerzen spürt. Am Ende wird er an der Ursache sterben und darin der Hauptfigur in Thomas Manns Dekadenzroman Die Buddenbrooks folgen. Pauls Schicksal macht die Hauptspannung im Schlussteil des Werks aus. Auch hier gewinnt das Schweigen die Oberhand. Was hingegen keinerlei Bedeutung mehr besaß, das waren Worte; sie verbrachten ganze Tage miteinander, ohne ein einziges Wort zu wechseln, sagt der Erzähler von Paul und seiner Freundin Prudence.

Houellebecq fügt der Geschichte eine Danksagung an und schließt mit den Zeilen: Ich bin glücklicherweise gerade zu einer positiven Erkenntnis gelangt; für mich ist es Zeit aufzuhören. Das klingt nach einer Ankündigung, keine Texte mehr zu schreiben. Houellebecqs Nihilismus hätte ihn selbst eingeholt. Dass der Erzähler im Roman den Wert von Worten in Zweifel zieht, würde hierzu passen. Aber genau genommen widerspricht er sich selbst, wenn er der Wortlosigkeit das Wort redet. Insofern darf man hoffen, dass auch der Autor seinem Vorsatz zuwiderhandeln wird.

Bonmots aus „Vernichten“

Die Romantik ist in Deutschland entstanden, das vergisst man manchmal, um ganz genau zu sein, ist sie im Norden Deutschlands entstanden, in einem pietistischen Milieu, das übrigens eine nicht unerhebliche Rolle bei den anfänglichen Entwicklungen des industriellen Kapitalismus gespielt hat.

In allen früheren Zivilisationen beruhte die Wertschätzung oder gar die Bewunderung, die man einem Menschen beimaß, das, was es ermöglichte, seinen Wert zu beurteilen, auf der Art und Weise, wie er sich sein Leben lang tatsächlich verhalten hatte (…) Indem wir dem Leben eines Kindes einen höheren Wert beimessen – ohne zu wissen, was aus ihm wird, ein Genie, ein Verbrecher oder ein Heiliger werden wird –, leugnen wir den Wert unseres tatsächlichen Handelns (…) So entziehen wir dem Leben jeden Ansporn und jeden Sinn; genau das ist es, was man als Nihilismus bezeichnet. Die Vergangenheit und die Gegenwart zugunsten der Zukunft abzuwerten, das Reale zugunsten einer in einer unbestimmten Zukunft verorteten Virtualität abzuwerten, das sind weitaus entscheidendere Symptome des europäischen Nihilismus als alle, die Nitzscche je aufzeigen konnte – genauer gesagt müsste man jetzt vom abendländischen Nihilismus oder sogar vom modernen Nihilismus reden, wobei ich mir keineswegs sicher bin, ob die asiatischen Länder mittelfristig davon verschont bleiben werden.

Familie und Ehe waren die beiden verbliebenen Pole, die das Leben der letzten Bewohner des Abendlands in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts ordnete. Andere Modelle waren von Menschen, denen das Verdienst zukam, die Abnutzungserscheinungen der traditionellen Modelle vorauszuahnen, vergeblich in Betracht gezogen worden, ohne dass es ihnen jedoch gelungen wäre, neue zu entwickeln, und deren historische Rolle war daher gänzlich negativ gewesen. Die liberale Doxa ignorierte weiterhin beharrlich das Problem, erfüllt von ihrem ebenso unbedingten wie naiven Glauben, das Lockmittel des Profits könne jeden anderen menschlichen Ansporn ersetzen und allein die für die Aufrechterhaltung einer komplexen Ordnung erforderliche geistige Energie hervorbringen. Das war eindeutig falsch, und für Paul schien es klar zu sein, dass das ganze System in einem gewaltigen Kollaps zusammenbrechen würde.

Es sind eher die halbwegs wohlhabenden Hochschulabsolventen, die Angehörigen der Mittelschicht in ihren Herkunftsländern, die versuchen, nach Europa auszuwandern. Und dann nehmen sie nicht alle Risiken auf sich, sondern kalkulieren sie. Sie haben ganz genau vestanden, wie wir funktionieren, unsere Schuldgefühle, die Überreste des Christentums und so weiter.

Mochte der Begriff der Dekadenz auch nur schwer zu fassen sein, so sei sie dennoch eine wirkungsmächtige Realität; (…) ganz Europa sei zu einer entlegenen, alternden, depressiven und einigermaßen lächerlichen Provinz der Vereinigten Staaten von Amerika geworden.

Das Leben ist ein Geschenk Gottes, und Gott hilft dir, wenn du dir selbst hilfst, aber wenn du das Geschenk Gottes ablehnst, kann er nichts für dich tun, und im Grunde hast du gar nicht das Recht, es abzulehnen, du bildest dir vielleicht ein, dass dein Leben dir gehört, aber das stimmt nicht, dein Leben gehört denen, die dich lieben.

Es war ein sehr langer, träumerischer Blowjob – er begann kurz nach achtzehn Uhr und endete gegen einundzwanzig Uhr.

… war er nach wie vor in der Lage, sich Gedanken zu machen, wenn auch in überschaubaren Umfang, zumal seine intellektuellen Ansprüche schon immer bescheiden gewesen waren; von Zeit zu Zeit machten sie sich in den Randzonen seines Bewusstsein bemerkbar. In dieser Hinsicht unterschied er sich nicht von den meisten anderen Menschen, er konnte es nicht ganz vermeiden, über allgemeine Frage nachzudenken, wohlwissend, dass er keine von ihnen zu lösen vermochte.

Seit ungefähr einem Jahrhundert waren immer mehr Menschen anderer Art aufgetaucht; sie waren spaßig und schmierig, sie besaßen nicht einmal mehr die Unschuld von Affen, sie waren beseelt von der höllischen Mission, jedes Band zu zernagen und zu zerfressen, alles, was notwendig und menschlich war, zu zerstören.

Das ist ein wenig der Erbmakel der Männer, sie lieben es zu verallgemeinern; in gewissem Sinne besteht darin zugleich auch ihre Größe, wenn man so will, denn wo stünden wir ohne Verallgemeinerungen, ohne Theorien?

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