Davon geht die Welt nicht unter: Dörte Hansens „Mittagsstunde“ und die moderne Landflucht

Dass Ortschaften auf dem Lande veröden und sich die dort Übriggebliebenen abgehängt fühlen, ist ein politisches Problem. In diesen Kontext könnte man Dörte Hansens neuen Roman Mittagsstunde stellen, der von dem Niedergang eines Dorflebens an der nordfriesischen Küste handelt. Kann man daraus politisch etwas lernen?

Der Umbruch für Brinkebüll, so heißt die Gemeinde in Hansens Werk, beginnt mit der Flurbereinigung in den 60er Jahren, durch die nicht nur die Landschaft, sondern auch das jahrhundertealte Wirtschaften der Bauern „in Kreisen“ begradigt wird. Symbolisch wird das Geschehen dadurch untermalt, dass einer der Vermessungsingenieure, die den Eingriff in die Natur vorbereiten, das Dorfmädchen Marret schwängert und sie dann alleine lässt. So wenig wie dieser Akt als eine Vergewaltigung dargestellt wird, so wenig erscheint die Flurbereinigung als eine Aggression wider den Willen der Bewohner. Die Ingenieure sind keine Schreckensmänner, sondern Weichlinge, die im Dorfkrug mit „Mädchenpuntsch“ abgefertigt werden. Als die Baumaschinen Hecken und Wege beseitigen, echauffiert sich einzig der Dorflehrer Steensen. Seine Empörung klingt so: „Was maßten die sich an, die da auf ihren dröhnenden Maschinen saßen? (…) Die alten Felder, Bäche, Trampelpfade korrigieren und begradigen, Teerstraßen durch die alten Sander walzen, Findlinge beiseiteschieben, die seit der Saale-Eiszeit hier gelegen hatten. Schwedischer Granit! Man musste Gletscher sein, um das zu dürfen!“

Die drollige Kompetenzzuschreibung an Gletscher ist Ausfluss von Dörte Hansens Humor, Naturerscheinungen zu vermenschlichen (ein anderes Beispiel dafür: „die Amseln trugen Wintergras und kleine Zweige in den Schnäbeln, trafen sich zum Speeddating in kahlen Bäumen“), und nimmt dem Protest jegliche Bissigkeit. Der Dorflehrer widersetzt sich auch anderen Neuerungen, wie der Reformierung des Heimatunterrichts in ein Fach namens „Sachkunde – Brücken in die Welt“ oder einer sozialdemokratischen Pädagogik: „Für das Gerede von Chancengleichheit hatte er nur Mitleid und Verachtung übrig. Er glaubte nicht an die Gleichheit, sondern an die Unterschiede. Es gab in jeder Klasse zwei, drei wirklich dumme Schüler und genauso viele kluge, und der Rest lag irgendwo dazwischen.“ Trotzdem endet dieser Lehrer nicht verbittert: Mit einer „Leichtigkeit“ geht er seiner Pensionierung entgegen, um danach nicht etwa alten Zeiten nachzuhängen, sondern in die Stadt zu ziehen.

Ähnlich ist der Gastwirt Sönke Feddersen gestrickt, in dessen Schenke die Dorfgemeinschaft sich findet und daher auch ihr Verschwinden augenfällig wird. Bei aller Knorrigkeit nimmt er das Schicksal gelassen, ja heiter hin. Er stellt sich Gott so vor wie jenen Soldaten, der der hungernden Kompanie im Russlandfeldzug die Brotscheiben zuteilt: als einen, der eisern und unbestechlich ist, sodass man akzeptiert, was man von ihm bekommt. Nur als Feddersen erfährt, dass nicht nur seine Tochter Marret von einem anderen Mann stammt, sondern auch sein Enkelsohn unehelich ist, da fragt er sich, ob Gott nicht ein Witzbold sei.

Der uneheliche Enkel, Ingwer Feddersen, potenziert diese Duldsamkeit – so sehr, dass er zu stagnieren droht. Als fast Fünfzigjähriger lebt er noch immer in einer WG und in einer überständigen Dreiecksbeziehung. Die Erzählerin vergleicht ihn mit einem „Findling, der sich durch die Zeit schieben lässt“. Ohnehin hat er eine Affinität zu Steinen: „Er grub schon, seit er denken konnte. Drehte Steine um an Straßenrändern“. Folgerichtig wird er Archäologe.

Steinig ist der Grund, auf dem dieses Dorf und seine Bewohner existieren: Ein seit der Eiszeit „zerschrammeltes Altmoränenland“, auf dem im Neolithikum Menschen sesshaft wurden. Steinig ist aber auch der Himmel über ihnen: Er „mauert“ mit „Wolken wie Mühlsteinen“, während der Westwind „wie ein durchgedrehter Feldherr“ randaliert, „ein alter Wind, der viel gesehen hatte, Findlinge geschliffen“. All dies begünstigt eine „norddeutsche Schonhaltung“: „Rücken in den Wind, den Kopf gesenkt“.

Inmitten dieses steinern-stoischen Menschenschlags tanzt eine Figur aus der Reihe: Die Klappersandalen tragende Marret, mit deren Kassandraruf: „De Welt geiht ünner“ das Buch beginnt. Sie „war wie etwas Flüchtiges, Verwehtes, das ständig seine Form änderte, Sanddüne, Wolke, Quecksilber“. Sie allerdings verschwindet, während das Dorf trotz seines Niedergangs fortbesteht.

Wer das Buch zu Ende liest, erfährt weder eine politische noch sonst eine menschengemachte Lösung für das Problem der modernen Landflucht. Was man erlebt ist aber, dass die Bewältigung solcher Prozesse Einstellungssache ist. Die existentielle Gelassenheit geht so weit, dass es am Ende heißt: „Es ging hier gar nicht um das bisschen Mensch.“

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