Was einem Atheisten übrigbleibt – Strunks „Sommer in Niendorf“

Ein Wirtschaftsanwalt nimmt sich eine Auszeit an der Lübecker Bucht, um ein Buch zu schreiben, und gerät aus der Bahn. Liegt es an dem Spirituosenhändler, mit dem Georg Roth, so heißt der Held in Heinz Strunks neuem Roman, Bekanntschaft macht? Variiert die Geschichte, die an einer Stelle Thomas Mann erwähnt, Niedergänge à la Buddenbrooks oder Tod in Venedig?

Auffällig jedenfalls ist die Zäsur in der Mitte des Buches: Roth verlässt den Ferienort und fährt nach Hause, wo er die Arbeit am Buchprojekt, die bis dahin schleppend voranging, abbricht. Er trifft seine frühere Frau und streitet mit ihr. Nicht über vergossene Ehe-Milch, sondern über Gott. So steif ihr Glaube scheint, so aggressiv sein Unglaube. Geflutet von destruktiver Energie und einem Liter Wein sagt er: „Der Allmächtige hat Millionen Jahre Zeit gehabt, um aus der Welt etwas Schönes zu machen, aber offenbar hat er mehr Lust auf Vernichtungskriege, Killing Fields und Genozid gehabt.“ Und weiter: „Hast du dir mal überlegt, was wäre, wenn Jesus nicht gekreuzigt, sondern gehängt worden oder auf dem elektrischen Stuhl gelandet wäre? Dann trügen Christen Galgen oder Stühle um die Hälse.“ Worauf sie ihn einen Teufel außerhalb der Gnade Gottes nennt und verwünscht.

Zeigte sich Roth bis hierhin nur in Gedanken oder Worten gehässig gegenüber Mitmenschen, so übertritt er jetzt die Grenze zur Gewalt und Straftat. Er schlägt seiner Ex-Frau ins Gesicht. Es folgt eine nächtliche Rückfahrt an den Ostseeort und hierbei schleift er einen Unbekannten, der ihm bei einem Stopp am Straßenrand ins Wagenfenster gegriffen hat, mutmaßlich zu Tode.

Während Roth mit dem Trinken und der Völlerei, auf die ihn der Schnapshändler Markus Breda gebracht hat, fortfährt, mischen sich nun Lichtblicke der Menschlickeit in sein Leben. Am Tag nach der Gewaltaktion klingelt bei ihm statt der Polizei Bredas Freundin Simone. Sie bittet ihn um Unterstützung, weil Breda verunfallt ist. Er hilft, und auch sie hilft ihm, als er sich wenig später selbst verletzt. Ebenso wird ihm die Güte eines Rentnerpaares zuteil, das in die Nachbarwohnung eingezogen ist, allerdings vor ihm wieder abreist. Breda berappelt sich, doch dauert es nicht lange, bis er wieder ins Krankenhaus kommt und einem Organversagen erliegt. Roths Annäherungsversuch an eine Kellnerin endet im Fiasko, aber mit Simone kommt er zusammen. Sie ist wie Breda übergewichtig, beim ersten Kennenlernen findet Roth sie unansehnlich: Die Frau hat etwa die Größe eines Hydranten, breit wie groß wie lang wie tief … ihr Dicksein überschattet alles (mögliche) andere. Aber am Ende befeuert gerade das die Liebe, bezeichnenderweise am Christfest: Am ersten Weihnachtsfeiertag haben Simone und er zum ersten Mal richtigen Sex. Es ist noch mal ganz anders als gedacht. Sie ist vor allem VON ALLEM SEHR VIEL. Eine neue Erfahrung. Aber wenn man sich von der bloßen Masse nicht einschüchtern lässt, bedeutet es auch eine VerVIELfachung des Genusses.

Roths Ansprüche haben sich verschoben. Er verkauft sein Anwesen, übernimmt dafür einen Strandkorbverleih und mietet eine kleine Wohnung. Wenn Simone und er am Meer spazieren, verschmelzen sie mit den Grau- und Brauntönen des Winters. Der aufgekratzte Atheist und Möchtegern-Literat bescheidet sich in Harmonie.

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