Die Nazis und der Künstler in Kehlmanns „Lichtspiel“

Unter „einer Seele von Mensch“ stellt man sich eher nicht einen Nationalsozialisten vor. Trotzdem wird uns Karl Jerzabek, Hausmeister eines heruntergekommenen Landschlosses in Österreich, mit dieser freundlichen Charakterisierung vorgestellt, bevor wir erfahren, dass er NSDAP-Ortsguppenleiter geworden ist und zusammen mit seiner Familie die demente Schlossbesitzerin tyrannisiert. Als deren Sohn, der Filmregisseur G.W. Pabst, mit Frau und Kind zu Besuch kommt, heißt er sie willkommen: So eine Freud, wiederholte Jerzabek, und hätte man nur seine Stimme gehört und nicht sein Gesicht und sein aus gelben Zähnen zusammengefügtes Lächeln gesehen, man hätte glauben können, er meine es ernst. Von Pabst auf ein Versäumnis angesprochen droht er, dass man sich schnell anderswo wiedersehen könnte, um kurz danach zu fragen, was die gnädigen Herrschaften denn heute zu tun gedächten, und ein Picknick vorzuschlagen an einem Brunnen nahe dem Gemeindegefängnis, dessen Insassen bald ins KZ weitergeschickt würden. Danach beteuert er, dass er sich gut um die Besucher kümmern wolle, denn bei ihm solle es den Herrschaften ja nicht gehen wie den Lumpen im KZ.

Dass diese Figur flackert, ihre Züge von hell in finster umschlagen, ist ein Beispiel für die Erzählweise in Daniel Kehlmanns an Effekten und Wahrnehmungsirrititationen reichen Roman, weshalb dessen Titel Lichtspiel auf seine eigene Machart bezogen werden kann.

Der andere Nazi, den wir in diesem Buch näher kennenlernen, ist Bruno Krämer: einst Postbote, inzwischen Abgesandter des Propagadaministeriums. Dementsprechend changiert auch er, nämlich zwischen Stärke und Schwäche, Schneidigkeit und Verletzlichkeit. Wir begegnen ihm zuerst auf einer Party im amerikanischen Exil. Er nimmt ein Glas und sofort fühlte er sich weniger schüchtern. Doch seine Lüge, er wäre ein Ingenieur bei General Electric, fliegt schon im ersten Small Talk auf. Das hält ihn wiederum nicht davon ab, Pabst unverfroren die Rückkehr nach Großdeutschland und den Dienst für den NS-Staat anzubieten. Dort fungiert er als Aufpasser der Filmproduzenten und tritt entsprechend gebieterisch auf. Dennoch bricht seine Unsicherheit durch: Er lässt sich kränken, schämt sich, wenn er bemerkt, sich ungebildet geäußert zu haben, oder wird von einer Gegenfrage des Hausmeisters beunruhigt.

Dann erleben wir, wie Pabst Goebbels aufsucht. Wahrnehmungsverschiebungen, wie sie Kehlmann seiner Hauptfigur nicht nur in diesem Roman gerne andichtet, säumen das Treffen. So führen die Gänge im Ministerium eine halbe Ewigkeit geradeaus, ergeben geometrisch keinen Sinn, Goebbels Büro wirkt gigantisch überdimensioniert, der Minister erscheint doppelt, die Tür scheint vor Pabst zurückzuweichen, er ging schneller, die Tür wich noch schneller zurück, er ging noch schneller, aber mit einem Mal hatte der Raum sich umgefaltet, sodass er an der Decke hing und mit dem Kopf nach unten ging. Die entscheidende Stelle im Gespräch ist: „Bedenken Sie, was ich Ihnen bieten kann“, unterbrach der Minister. „zum Beispiel KZ. Jederzeit. Kein Problem. Aber das meine ich ja gar nicht. Ich meine, bedenken Sie, was ich Ihnen auch bieten kann, nämlich: alles, was Sie wollen. Jedes Budget, jeden Schauspieler. Jeden Film, den Sie machen wollen, können Sie machen.“ Wieder flackert eine Figur, diesmal zwischen Generosität und Grausamkeit.

Pabst willigt ein und dreht unter NS-Herrschaft drei Filme, die allerdings keine Propagandastücke sind. Wer ihm für diese Kollaboration moralisches Versagen vorwirft, müsste die Frage beantworten, welche Alternative er angesichts dieses Gesprächs hätte wählen sollen.

Nicht nur in dieser Szene, in der er kaum etwas äußert und sich das Meiste aus dem Mund ziehen lässt, bleibt Pabst konturlos – im Gegensatz zur scharfen Präsenz seines Gegenübers. Wir bekommen im ganzen Buch kein richtiges Bild von ihm, seine Auftritte fügen sich nicht zu einem Ganzen. Das mag man wie mancher Rezensent als Mangel werten, gewissermaßen passt es aber zur Person. Ein Weggefährte beschreibt den Regisseur so: Er war nicht sehr groß, aber etwas rund, und am Set hat er viel gelacht, aber wenn die Scheinwerfer ausgingen, war er oft wie ausgeleert. Wie ein Kostüm, das keiner trägt. An anderer Stelle heißt es: Wenn er nicht gearbeitet hat war er nicht ganz … anwesend. Pabst ist ein absoluter Künstler in dem Sinne, dass für ihn Filmschaffen alles ist (und im Umkehrschluss alles andere nichts). Er selbst sagt: Kunst ist immer unpassend. Immer unnötig, wenn sie entsteht. Und später, wenn man zurückblickt, ist sie das Einzige, was wichtig war.

Dieses Bekenntnis gibt Pabst während der Dreharbeiten in der Endphase des Weltkrieges ab. Und dabei (jedenfalls in der Romanfiktion, historische Belege gibt es nicht) verfängt sich sein Kuntsabsolutismus im Totalitarismus: Weil die Statisten für die Hauptszene ausfallen, werden Häftlinge aus dem Konzentrationslager eingesetzt, als Konzertbesucher kostümiert. Der Assistent an der Kamera protestiert, doch Pabst entgegnet: Keinem einzigen Menschen. Wird wegen uns etwas angetan. Niemand wurde wegen uns … Der Film muss fertig werden.

Der Kameramann ist kein absoluter Künstler, sondern nur Schüler des Filmvirtuosen. Während er hier moralisch besser abschneidet, wird er später auf andere Weise schuldig durch Verdrängung. Wir erleben ihn am Beginn und Ende des Buchs als senilen Heimbewohner. Liest man nach der Romanlektüre das Anfangskapitel noch einmal, geht einem erst auf, was er anrichtet.

Wiederholendes Lesen lohnt sich bei Kehlmann, weil er mit Subliminalen, unterschwelligen Reizen, arbeitet – wie Pabst, der zwischen Aufnahmen lächelnder Gesichter halbsekündliche Wutgrimassen schneidet: Beim Zuschauen bemerkt man sie, man weiß nur nicht, dass man sie bemerkt. So fällt einer der ersten Eindrücke im Buch, nämlich von einem Taxifahrer, kaum auf: Der Mann hat graue Haare, auf seinen Schultern liegen Hautschuppen. Am Rückspiegel pendelt ein kleines Kreuz an einer Perlenkette. Doch 360 Seiten später stoßen wir auf dieselbe Formulierung, jetzt bezieht sie sich auf einen Chauffeur im nationalsozialistisch besetzten Prag und man wundert sich über das christliche Symbol unter diesen Umständen. Markant dagegen ist das ebenfalls im Eingangskapitel gesetzte Pferde-Motiv, über dessen Bedeutung man zu rätseln hat: Mit Text ist es wie mit Pferden, wollen Sie wissen warum? Die Frage wird nie beantwortet, dafür ist das Pferd zugegen, wenn der Hausmeister auf dem Fuhrwerk die Peitsche schwingend vom KZ redet, wenn von typischen Sujets deutscher Literatur die Rede ist (Gewichtheber und Pferde) und wenn zum Schluss Filmdosen mit Hufeisen verwechselt werden.

Die Frage ist, ob die erzähltechnischen Anleihen beim Film – Subliminale, plakative Motive, gleitende Perspektiven wie durch eine bewegte Kamera oder die oben erwähnten Wahrnehmungsverkehrungen – nur einen mimetischen Sinn haben (also cineastische Stilmittel der Hauptfigur nachahmen), oder einfach Kehlmanns Neigung zum magischen Realismus erwachsen oder inwiefern sie eine Wahrheit über die erzählte Wirklichkeit befördern. Spezifischer gefragt: Gibt es eine Entsprechung zwischen filmischen Tricks und Nationalsozialismus? Konkret: Begreifen wir Goebbels Machtsphäre besser, wenn der Gang zu ihm surrealistisch erzählt wird?

Ein tieferes Verständnis gewinnen wir jedenfalls für den Künstler selbst. Die wie gesagt undeutliche Figur Pabst wird an wenigen Stellen doch eindringlich, nämlich dort, wo ihr kreativer Prozess beschrieben wird: Als er Dreharbeiten von Leni Riefenstahl beiwohnt und sich vor seinem inneren Auge eine Kamerafahrt bildet, die Riefenstahls steriles Schauspiel zu Leben erweckt, oder als er nachts die Eingebung hat, wie aus dem Stoff eines Trivialromans ein Meisterwerk zu machen ist: Und da, während er hinaussah auf das vom Mondlicht beschienene Gras, sah er den Geiger Fritz vor sich, einen Schattenriss vor flammenden Scheinwerfern, Hunderte Gesichter starrten, aber er spielte nicht gut, sondern nur bemüht und etwas besser als mittelmäßig. Schwerelos stieg die Kamera, blickte hinab auf die Menge – genau davon sprach alle Kunst: Die Welt ist Sehnen. Das menschliche Leben ist unerfüllt. Der tiefste Ausdruck davon ist die Musik. […] Die Musik wusste all das, und auch die Kamera wusste es, wenn sie in steter Bewegung die Figuren umkreist, sie war ein Blick von nirgendwoher, von jenseits der Zeit auf all das hilflose, verzweifelte Streben. Pabst ging im mondhellen Zimmer auf und ab. Genau darum musste es gehen – dass die Musik nur scheinbar von der Schönheit sprach, in Wirklichkeit aber davon, dass nichts genügte, dass alles immer unzureichend war. Dass immer so viel fehlte.

Pabst findet Bilder für seine Einsicht in die Tragik des Menschen. Umso erschütternder ist, wer bei der Realisierung dieser Filmidee die Hunderten Gesichter abgeben muss. Man kann offenbar die humansten Beweggründe haben und zugleich fühllos sein für Entmenschlichung.

Vermutlich spricht Kehlmann, wenn er Pabsts Inspiration gestaltet, von seiner eigenen. In einem Vortrag verriet er einmal, was der Glutkern seines Romandurchbruchs Die Vermessung der Welt gewesen sei: die Vision eines Seeungeheuers auf dem Atlantik. Um dieses Bild herum habe sich die Geschichte entwickelt. Es ist kein langer Vorgang, der ein Kunstwerk auslöst, sondern es ist ein atemstockender Augenblick.

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